Grauzonen - Rechte jugendliche Lebenswelten

Naturalisierung des Sozialen / Biologismus:
»Das ist doch ganz natürlich ...«

»Natur«, »Natürlichkeit« und die ihnen verwandten Ausdrücke haben im Denken der Menschheit immer eine große Rolle gespielt. Der Mensch hat seit jeher ein ambivalentes Verhältnis zur Natur: Einerseits versorgt ihn die Natur mit notwendigen Ressourcen, andererseits stellt sie durch ihre Naturgewalten eine Bedrohung dar. Zu Verwirrungen führt, dass beide Begriffe sehr unterschiedliche Bedeutungen haben. Für »Natürlichkeit« führt Thomas Schramme (Ökologische Ethik: Natürlichkeit als Wert) folgende Bedeutungen auf:

»1) das Biologische: alles was die Natur hervorgebracht hat/bringt, biologische Vorgänge, Naturgesetzmäßigkeiten;

2) das Selbstverständliche: Gewohntes, Konventionelles, Unhinterfragtes, statisch Normales; 3) das nicht- artifizielle ( nicht- Künstliche): ungezwungen, ungekünstelt, nicht affektiert, authentisch;

4) das nicht-Kulturelle: vom Menschen unberührtes, ursprüngliches und

5) das nicht- technische: von der Natur selbstorganisierte ›Lösungen‹ (Evolutionstheorie).« 1

»Natur« und »Natürlichkeit« sind überwiegend positiv besetzte Begriffe. Die Suche nach »Natürlichkeit« ist bestimmt durch die Annahme, dass der Mensch ein »entfremdetes« Leben führe, dass er Zwängen und Verhältnissen ausgesetzt sei, die seine »natürliche Bestimmung« und sein »wahres Wesen« unterdrücken würden. Bereits hier besteht die Anschlussstelle zu reaktionären Ideologien, die den Menschen als biologisches Wesen und weniger als soziales Subjekt begreifen.

Biologistische Argumentation

Die Naturalisierung des Sozialen ist untrennbar mit der Ideologie des Biologismus verbunden, erklärt angebliche »Naturgesetze« und eine angebliche »natürliche Ordnung« als handlungsleitend. Der Sprachwissenschaftler Siegfried Jäger verweist darauf, dass auch der kulturelle Rassismus einhergehe mit der »Naturalisierung des Kulturellen, des Sozialen oder der Geschichte, wodurch diese sozusagen stillgestellt und jeglichem Versuch einer Veränderung entzogen« sei. 2

Der Publizist Frank Schirrmacher schrieb 2010 in einer Kritik an Thilo Sarrazin: »Nichts verhindert die Klugheit einer Gesellschaft mehr als Biologismus – nicht nur weil er falsch ist, sondern weil er den Menschen das Gefühl gibt, festgelegt zu sein und weil er anderen die Macht gibt, sie festzulegen." 3 Die Konsequenz biologistischen Denkens ist, dass Verhaltensmuster und Rollenzuweisungen als nicht verhandelbar erscheinen. Das sozialdarwinistische »Recht des Stärkeren« oder auch männliches Dominanzverhalten werden mit dem Hinweis legitimiert, dass dies in der Natur eben so sei. Das Streben nach Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit gilt als »wirklichkeitsfremde« und »widernatürliche« »Gleichmacherei«. In ihrem Heimat-Lied »Wah-re Werte« singt die Band Frei.Wild:

»Wo soll das hinführen, wie weit mit uns gehen, selbst ein Baum ohne Wurzeln kann nicht bestehen.«

Die Analogie zwischen dem heimatverbundenen Menschen und einem Baum, die Frei.Wild herstellen, ist biologistisch und ideologisch stark aufgeladen. Sie besagt: Der Normalfall Migration ist »widernatürlich«.

Sprache und Bewusstsein

Unsere Alltagssprache ist durchzogen von Begriffen und Redewendungen des »Natürlichen«, » Echten«, denen abwertend das »Unnatürliche« und »Unechte« gegenübergestellt wird. Was ein zwar problematischer, aber nur missverständlicher Sprachgebrauch und was tatsächlich Ausdruck reaktionärer Überzeugung ist, erschließt sich oft nur über den Sinnzusammenhang des Gesagten. »Ich bin so, ich kann nicht anders«, »Es steckt in mir drin« – derartige Aussagen fallen oft in Gesprächen mit Personen aus rechten oder rechtsaffinen Cliquen, wenn diese aufgrund ihrer Verhaltensweisen kritisiert werden.

Diese Behauptungen implizieren, dass das Individuum keine reflektierte Kontrolle über sein*ihr Handeln habe. Auch wenn dies »gar nicht so gemeint« sei, so dient es doch dazu, dass die Person bzw. Gruppe das eigene Verhalten nicht rational begründen muss und dafür nur sehr eingeschränkt Verantwortung übernehmen kann. Häufig werden die Begriffe »normal« und »natürlich« miteinander verkoppelt. Dies spiegelt sich wider Aussagen wie »Das war doch immer schon so«, was meint: »Es soll so bleiben, wie es immer schon war«, und dem Zusatz: »Das ist doch ganz natürlich.«

Der Aussage »Es ist doch ganz normal, dass ich als Deutscher für die deutsche Fußballnationalelf bin« folgt zur Verstärkung des Gesagten oft der Hinweis, das es »ganz natürlich« sei, zu »seinem Land« zu stehen. Die soziale Norm wird zum Synonym eines vermeintlichen Naturgesetzes. Fragen, wer mit welchen Interessen die Normen setzt, erübrigen sich darüber.

Das Leben als Zustand

Die Verweise auf die »Wirklichkeit« des eigenen Lebens und auf die »Natürlichkeit« des eigenen Denkens und Handelns ist allgegenwärtig in den Legitimationsmustern in rechten Lebenswelten. Frei.Wild singen in ihrem 2015 veröffentlichten Song »Die Band, die Wahrheit bringt«: »

Wir sind und bleiben für immer das, was wir wirklich sind. Männer, die zu ihrem Wort stehen, eine Band, die Wahrheit bringt.«

In rechten Lebenswelten wird die eigene Person und seine*ihre soziale Umwelt in der Regel als ein Zustand und nicht als ein sich (verändernder und veränderbarer) Prozess verstanden. Der darin zum Ausdruck kommende Antimodernismus richtet sich weniger gegen technische, vielmehr gegen kulturelle Phänomene. Kulturelle und gesellschaftliche Veränderungen sind fast durchweg negativ besetzt und angstbehaftet. Indes: Konservatismus ist nicht pauschal mit der Naturalisierung des Sozialen gleichzusetzen. Doch das Ansinnen, die traditionelle Ordnung beizubehalten oder dahin zurückzukehren, erfährt erheblich mehr innere und äußere Überzeugungskraft, wenn diese Zustände als »natürlich« im Sinne einer natürlichen Gesetzmäßigkeit begriffen werden. Insbesondere der Strukturkonservatismus nährt sich häufig aus biologistischer Argumentation.

Der »triebgesteuerte« Mensch

Eine Ultragruppe innerhalb der pluralen Gruppenlandschaft des SV Werder Bremen zeigte bei einem Spiel 2012 ein Transparent, auf dem eine angsterfüllte Person mit einem blau-weißen Schal gezeichnet ist, die einen Fan des Hamburger SV darstellen soll. Die Überschrift lautete »Triebtäter«. Der Hass auf den rivalisierenden Verein wird zu einer Triebhandlung erklärt, man selbst setzt sich mit Personen gleich, die aus einem angeblich »inneren Zwang« heraus handeln. Eine linke Ultragruppe Werder Bremens wies zudem auf die weitere problematische Implikation hin, da der Begriff »Triebtäter« im Allgemeinen mit einer Person assoziiert ist, die »triebhaft« sexuelle Gewalt ausübt. Die Ultras, die das Transparent zeigten, gingen auf die inhaltliche Kritik nicht ein und erklärten es zur Ironie. Als das Transparent weiter gezeigt wurde, wurde es von Kritiker*innen entfernt. Den Kritiker*innen wurde daraufhin vorgeworfen wurde, die Fanszene zu spalten und zum Nachteil des Vereins zu handeln.

BlaueBombers

oben: Der 1995 gegründete Fanclub Blaue Bombers (SV Stuttgarter Kickers) bezeichnet sich selbst als »Triebtäters«. Der Aufkleber von ca. 2014 hat keinen Fußballbezug. Die sexistische Zeichnung lässt nur die Interpretation der Selbst­stilisierung als sexuelle »Triebtäter« zu. Foto: ultrapeinlich.tumblr.com

triebtäter

oben: Das Transparent von Bremer Fans, die sich als »Triebtäter« benennen, war 2012 in der Bremer  Fanszene stark umstritten

USPFrauen

Sexistische Transparente Münsteraner Fans im Jahr 2013: »Für eine Frauenquote bei den USP-Frauen!« und »Ihr Hipster-­Fotzen«. Männlichkeit und Weiblichkeit, die von traditionellen Rollenbildern und Verhaltensmustern abweicht, gilt als »unecht«. Frauen der Ultras St. Pauli (USP) wird vorgeworfen, selbstbewusst und gleichberechtigt aufzutreten. »Hipster« ist hier Schmähung für einen Menschen, der als weltgewandt, trendorientiert, traditions- und identitätslos angesehen wird. »Hipster« dient als  Gegenmodell zum »echten Mann«, zur »echten Frau« und zum »echten Fan«. Foto: BAFF

 

Die Konstruktion »echter« Männlichkeit

Im Jahr 2012 entstand aus einer rechten Nürnberger Hooligangruppe heraus der Rockerclub Bombers MC. Im Interview mit der Rockerzeitung Bikers News beschreiben drei Gründungsmitglieder des Bombers MC ihre Entwicklung vom Hooligan zum Rocker:


»Auch beim Fußball wird ein intensiver Codex gelebt. Es geht um das ›Mann-Sein‹ und darum wie schwer ein Wort oder eine Tat wiegen kann. Es ist der Zusammenhalt aus ehrlichen Gründen, ohne Vertrag oder Zwang. Das war auch der Grund, weswegen wir die für uns nächste, evolutionäre Stufe in eine weitere starke Gemeinschaft gegangen sind.« 4

Wenn dem Leben dennoch etwas Prozesshaftes zuerkannt wird, dann im Sinne eines natürlichen, hier als evolutionär beschriebenen, Entwicklungsprozesses. Die Berliner Band Bierpatrioten gilt aufgrund ihrer Gründung in den frühen 1990er Jahren als »Kultband« des deutschen Oi. Sie traten 2014 auf der Saisonabschlussparty der Fans des BFC Dynamo Berlin auf und spielten 2015 auf mehreren Punk-Festivals, aus denen Rechte ausgeschlossen sein sollten. Dort spielten sie ihr Lied »Irgendwann«. Darin heißt es:

»Ihr Pseudointellektuellen wisst immer alles besser, ihr pisst im Sitzen, duscht nur warm, ihr Müslifresser. Seh ich euer Getue und höre ich euer Geseier, dann wird mir richtig übel, ihr geht mir tierisch auf die Eier. Ihr habt lange studiert, doch wisst ihr nicht viel. [...] Immer trendy, immer hip, nein, was seid ihr gescheit. Doch es naht der Tag, an dem ihr es bereut. Irgendwann, irgendwann klatscht es. [...] Ihr haltet mich für dumm, denn ich bin kein Student. Nur weil ich keine Tunte bin, bin ich noch lange nicht verklemmt. [...]«

Was hier als Selbstbehauptung nicht-studierter Menschen gegenüber »Pseudointellektuellen« anklingt, ist die Verachtung des Mannes, der sich verweichlichen (»warm duschen«) und verweiblichen (»Tunte«) würde. Rücksichtnahme auf andere Menschen (im Sitzen pinkeln) und bestimmte Ernährungsweisen werden im Folgesatz als »Getue« verächtlich gemacht. Auch wenn dieser Liedtext nicht explizit die »Natur« des Mannes benennt, so drücken die Textzeilen die Ansicht aus, dass eine nicht akzeptable Männlichkeit gleichbedeutend mit gekünstelten und affektierten Verhalten (»Getue«) – und somit nicht »lebensecht« und »unnatürlich« – sei. Genau dies sind die Stichworte, an die sich häufig die naturalisierende Beschreibung des (echten) Mann-Seins anschließt.

Anti-Intellektualismus 

Der im vorangegangen Liedtext der Bierpatrioten erkennbare Anti- Intellektualismus ist in den von uns untersuchten rechten Lebenswelten weit verbreitet. Kern und Legitimationsgrundlage dieser Intellektuellenfeindlichkeit ist häufig die Naturalisierung des Sozialen. Anti-Intellektualismus ist nicht gleichzusetzen mit der Ablehnung eines akademischen Duktus und Habitus. Tatsächlich vermitteln sich viele intellektuelle Diskurse nur unzureichend in nicht akademische Kreise, die Vortragenden werden häufig als bevormundend und anmaßend empfunden. Plakative Abgrenzung ist vielfach die Reaktion – sowohl von Menschen, die aufgrund ihres nichtakademischen Hintergrundes von Wissensvermittlung und Diskursen ausgeschlossen werden, als auch von denen, die sich den Diskursen verweigern und (nicht nur selbstironisch) ihre Bildungsferne kultivieren.

Was vielen nicht bewusst ist: Anti-Intellektualismus und Anti- Rationalismus haben eine lange rechte Tradition. In dieser spiegeln sich die Abwehr von Veränderungen und die Naturalisierung des Sozialen wider. Kern dieses Denkens ist die angenommene Gegensätzlichkeit und Unvereinbarkeit von Emotionalität und Rationalität, von »gefühlsgeleiteten« und »vernunftgesteuerten« Menschen. Intellektuelle gelten als »lebensfern«, ihrem »natürlichen Wesen« entfremdet und stehen als Kritiker*innen und Modernisierer*innen unter Generalverdacht, die »natürliche Ordnung« zu zersetzen. Der in den rechten Lebenswelten zum Ausdruck kommende Anti-Rationalismus meint ausdrücklich die Ablehnung des theoretischen (abstrahierenden) Rationalismus, der Intellektuellen zugedacht wird. Dies steht nicht im Widerspruch dazu, dass dem »Mann der Tat« eine praktische Rationalität des Handelns zuerkannt wird, die seine Überlegenheit gegenüber Frauen und »unechten« Männern manifestiert. Das Selbstbild des Rebellischen ist in Jugendkulturen fast immer mit der Identifikation mit der »Straße« verbunden. Die Stra- ße steht für Authentizität und Abgrenzung vom Establishment. »Streetcredibility«, die Glaubwürdigkeit gegenüber den Fans, ist ein Imagekern vieler Rockbands. Dies ist keinesfalls eine rechte Einstellung. Doch in den von uns untersuchten rechten Lebenswelten wird »die Straße« oft mythisch überladen: als Symbol männlicher Härte, als Schauplatz sozialdarwinistischer Verteilungskämpfe und als Ort »der Wahrheit«, wo Taten statt »Geseier« (Bierpatrioten) zählten. Und sie wird in expliziter Abgrenzung zu Intellektuellen und »Moralaposteln« zum imaginären Raum des »echten« (Er-)Lebens erklärt. In dieser Besetzung wird die Straße zur Chiffre eines Anti- Intellektualismus, der reaktionäres Denken bedient und befördert.

1 Thomas Schramme, Natürlichkeit als Wert, www.analyse-und-kritik.net/ 2002-2/AK _ Schramme_ 2002 .pdf ( 15.02.2015 ).
2 Vgl. Siegfried Jäger, Brandsätze – Synoptische Analyse, Duisburg 1996
3 Frank Schirrmacher, Biologismus macht die Gesellschaft dümmer, FAZ, 05.09.2010
4 .»Es geht um das ›Mann-Sein‹«, Interview mit dem Bombers MC, Bikers News xxx / 2014

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